Übersicht:
- Meine Motivation
- Hintergrund
- Zum Verfahrensablauf
- Wegweisende weitere Verfahren
- Rechtsunsicherheit durch divergierende Urteile
- Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts
- Fazit
- Weiterführende Links
Meine Motivation
Aufgrund meiner eigenen familiären Erfahrungen mit der Krankheit Mukoviszidose (Cystische Fibrose) meiner Schwester habe ich mich seit Beginn meiner Tätigkeit als Anwalt in diesem Bereich für Betroffene eingesetzt.
Mein Hauptaugenmerk war dabei die Pflegepflichtversicherung und die Eingruppierungen in die Pflegegrade bei betroffenen Kindern.
Aus eigener Erfahrung war mir bekannt, mit welch immensem pflegerischen Aufwand die Pflege von an Mukoviszidose erkrankten Kindern verbunden ist.
Insbesondere die täglich mehrmals notwendigen Inhalationen und die bei allen Mahlzeiten erforderliche Motivation zum Essen und Trinken führen bei vielen Betroffenen und deren Angehörigen zu Schwierigkeiten.
Hintergrund
Die Einteilung der Pflegegrade erfolgt seit der Pflegereform 2017 nach entsprechenden Modulen. Etwaiges Abwehrverhalten bei Therapien ist dabei grundsätzlich in Modul 3 zu werten, jedoch bis dato immer nur dann, wenn das Abwehrverhalten Betroffener eine psychische Erkrankung als Grundlage hatte.
Die Motivation zum Essen und Trinken und die gleichzeitig erforderliche ständige Anwesenheit bei allen Mahlzeiten zur Kontrolle, ob die Nahrung auch tatsächlich gegessen wurde, um die bei fast allen Betroffenen erforderliche Kreon Gabe auf die Essensmenge abzustimmen, wurde durch die Pflegekassen und den von diesen beauftragten Medizinischen Dienst/Medicproof immer in Modul 5 gewertet.
Da fast alle an Mukoviszidose erkrankten Kinder in Modul 5 die volle Punktzahl von 20 Punkten hatten, führte eine Wertung der notwendigen Essensbegleitung regelmäßig zu keinem höheren Pflegegrad.
Zum Verfahrensablauf
In meinem ersten Verfahren in diesem Bereich vertrat ich einen 7-jährigen Jungen, dem von der Pflegekasse der Pflegegrad 1 zuerkannt wurde. Die von den Eltern des Jungen beschriebenen und vom MDK-Gutachter auch erkannten, extrem zeitaufwändigen Essensbegleitungen, die ein ständiges Motivieren und Überwachen des gesamten Essens Vorgangs erforderlich machten, wurden dabei dem Modul 5, konkret Ziffer 4.5.16 der Begutachtungsrichtlinien zugeordnet.
Nachdem ich gegen den Widerspruchsbescheid der Pflegekasse Klage vor dem Sozialgericht Würzburg erhob, wurde durch das Sozialgericht ein erneutes Gutachten zur Eingruppierung des Pflegegrades in Auftrag gegeben.
Der Gutachter folgte dabei meiner Argumentation, dass das ständige Anhalten zum Essen und Trinken und die entsprechende Überwachung des gesamten Essensvorgangs unter korrekter Anwendung der Begutachtungsrichtlinie nicht in Modul 5, sondern in Modul 4.4.8 „Essen“ eingruppiert werden muss.
In seinem Urteil 30.07.2019 folgte auch das Sozialgericht Würzburg (Az. S 9 P 193/18) meiner Argumentation und verurteilte die Pflegekasse zur Gewährung von Pflegegeld gemäß dem beantragten Pflegegrad 2. Konkret heißt es im Urteil des SG Würzburg wie folgt:
„Die erkennende Kammer folgt auch der vom Sachverständigen vorgenommenen Bewertung des Moduls 4 mit 10, 0 gewichteten Punkten. Insbesondere ist die Beurteilung des Punktes 4.4.8 (Essen) als überwiegend unselbständig (3 Punkte ) nach Auffassung der erkennenden Kammer nicht zu beanstanden. Denn entgegen der Auffassung der Beklagten steht diese Beurteilung im Einklang mit den aktuellen Begutachtungsrichtlinien. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Begutachtungs-Richtlinien zum Punkt F.4.8 Essen ausdrücklich folgende Formulierung enthalten:
„Zu berücksichtigen ist auch, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird.“ Dieser Gesichtspunkt ist nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. die im Einklang mit den Ausführungen des Universitätsklinikums Würzburg Klinik und Poliklinik 29.08.2018 steht, im vorliegenden Fall einschlägig, so dass im Ergebnis die Bewertung (auch des Moduls 4 ) durch den Sachverständigen Dr. S. nicht zu beanstanden ist.“
Wegweisende weitere Verfahren
Das Urteil des SG Würzburg war zunächst wegweisend für viele weitere Verfahren. Im weiteren Verlauf konnte ich für verschiedene Betroffene einen höheren Pflegegrad durchsetzen. So folgten u.a. folgende Gerichte:
- Sozialgericht München, Urteil vom 25.09.2020, Az. S 35 P 399/19
- Sozialgericht München, Gerichtsbescheid vom 19.10.2020, Az. S 39 P 78/20
- Sozialgericht Reutlingen, Urteil vom 24.11.2022, Az. S 9 P 161/22
- Sozialgericht München, Gerichtsbescheid vom 22.02.2023, Az. S 29 P 430/21
- Sozialgericht Konstanz, Urteil vom 22.06.2023, Az. S 8 P 965/22
In einem weiteren Verfahren vor dem Sozialgericht Freiburg folgte uns dieser Bezug auf unsere o.g. Begründung ebenfalls. Die Allianz als private Pflegepflichtversicherung erhob gegen das Urteil des SG Freiburg (S 18 P 153/20) jedoch Berufung.
In dem daraufhin vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg geführten Berufungsverfahren folgte mir das Gericht bezüglich der Begründung ebenfalls und ging sogar noch darüber hinaus. So stellte das Landessozialgericht Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 15.05.2023, Az. L 4 P 132/22, klar, dass die Motivation und Überwachung des Essens und Trinkens nicht ausschließlich in Modul 5 zu werten ist, sondern eine Wertung sowohl in Modul 4, als auch in Modul 5 zu erfolgen hat.
Begründet wurde dies durch das Landessozialgericht Baden-Württemberg insbesondere damit, dass das Bereitstellen einer Diät in Form hochkalorischer Kost in Modul 5 zu erfolgen hat, die Motivation und die Überwachung des Essen und Trinkens jedoch zusätzlich in Modul 4 zu werten sei.
Rechtsunsicherheit durch divergierende Urteile
Leider führte das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg nicht zu der erhofften Rechtssicherheit für die Betroffenen, da das Landessozialgericht Bayern in seinem Berufungsurteil vom 17.11.2022, L 4 P 35/20, zu der Auffassung gelangte, dass der gesamte Sachverhalt des Essens und Trinkens und die damit einhergehende Motivation und Überwachung ausschließlich in Modul 5 zu werten sei.
Besonders brisant war, dass das Landessozialgericht Bayern die Revision gegen das Berufungsurteil nicht zugelassen hatte.
Für Betroffene, aber auch für sämtliche Ausgangsgerichte führte dies zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit, da nunmehr zwei divergierende Landessozialgerichts-Rechtsprechungen in Bezug auf die korrekte Einordnung des Essen- und Trinkens in Modul 4 und/oder 5 existierten.
Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts
Die Familie, zu deren Lasten das Urteil des Landessozialgerichts Bayern ging, wandte sich nach Vorliegen des Urteils an mich und bat mich, den Fall zu übernehmen. Ich erhob aufgrund der Nichtzulassung der Revision zunächst Nichtzulassungsbeschwerde. Dabei wies ich insbesondere auf die nunmehr bestehende Rechtsunsicherheit aufgrund der divergierenden Landessozialgerichts-Rechtsprechungen hin.
Mit Entscheidung vom 21.09.2023 gab das Bundessozialgericht, Az. B 3 P 5/23 P, meiner Beschwerde recht und ließ die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts München zu.
Mit Schriftsatz vom 09.10.2023 lege ich daraufhin eine Revision gegen das Berufungsurteil des Bayerischen Landessozialgerichts ein. Es folgte daraufhin ein banges Warten. Vor dem Hintergrund der anhängigen Revision wurde allein in unserer Kanzlei für zwölf Verfahren das Ruhen angeordnet, um die anstehende Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts abzuwarten.
Am 12.12.2024 war es schließlich soweit und die mündliche Verhandlung zu der eingereichten Revision fand am Bundessozialgericht in Kassel statt. Gemeinsam mit unserem Verfahren wurden drei weitere Verfahren verhandelt, bei denen es allesamt um die identischen Fragestellungen ging: Nämlich die korrekte Einordnung von Abwehrverhalten in Modul 3 und des Essens und Trinkens in Modul 4 und/oder 5.
Schlussendlich folgte das Bundessozialgericht unserer Begründung und urteilte am 12.12.2024 zu Gunsten aller Betroffenen, dass die Abwehr pflegerischer Maßnahmen in Modul 3 und die Motivation zum Essen und Trinken und zum Einhalten von Diäten sowohl in Modul 4, als auch in Modul 5 zu bewerten ist.
Fazit
Die lang ersehnte Entscheidung des Bundessozialgerichts, Az. B 3 P 7/23 R, ist richtig und wichtig. Sie schafft nicht nur Rechtssicherheit für die Betroffenen, sondern auch für die von den Gerichten beauftragten Gutachter.
Durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts wird insbesondere, was lange überfällig war, der pflegerische Mehraufwand, den die an Mukoviszidose und Diabetes Typ I erkrankten Kinder und insbesondere deren Pflegepersonen bislang hatten, endlich gewürdigt und fließt in die Berechnung des Pflegegrades mit ein.
Dies ist nicht nur eine rechtliche Weichenstellung, sondern für viele Betroffene eine Anerkennung ihrer täglichen Arbeit und Unterstützung ihrer schwer kranken Kinder.
Betroffenen Eltern und Pflegepersonen stehen wir für Rückfragen, insbesondere zur Frage, ob nun ein Antrag auf Höherstufung des Pflegegrades gestellt werden sollte, zur Verfügung! Rufen Sie uns an unter 0941 – 20 600 850 oder schreiben Sie eine Mail an kontakt@engelhardt-rechtsanwalt.de.
Weiterführende Links
Bundessozialgericht stärkt Eltern mit kranken und pflegebedürftigen Kindern (aerzteblatt.de)
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